Die poetischen, ironischen und kritischen Volkslieder des 19. und 20. Jh. verraten uns (die wir «beim Singen den Verstand nicht schon an der Garderobe abgeben haben»), was einst an historischen Bruchstellen hätte anders kommen können, und erinnern uns daran, dass das Gegebene nicht notwendig so sein muss, wie es ist, sondern gemacht und damit veränderbar ist. Der Geschichtsphilosoph Walter Benjamin nennt eine solche Bewusstwerdung, die in die Gegenwart zielt, einen Tigersprung; Inspiration zum Handeln. Auch unsere biografischen Ereignisse sind vielfach Erinnerungszurichtungen und von aktuellen äusseren Einflüssen nicht geschützt. Sie können zu unserer Rechtfertigung dienen oder uns aufmerken lassen und Anstoss sein, die eigenen Denkhaltungen, Gewohnheiten und Glaubenssätze kritisch zu hinterfragen. Altern bedeutet auch letzteres!

Ob Konsonanz / Dissonanz, Wohlklang / Missklang oder irgendein anderes Verhältnis von Lösung oder Spannung: Hören ereignet sich zwischen vernehmen und verstehen, führt zu Resonanz, öffnet unsere Körper, bringt uns ins Spiel: Was beim Singen ergreift, ist nicht das Unaussprechliche der Musik. Wie zeitgenössische Malerei Farbe, Bildhauerei Materialität, thematisiert Musik zeitlich-räumliche Ausdehnung (Syntax, Folge, Verkettung, Interpunktion und Phrasierung) und ihre Melodien entstehen in der fortlaufenden Berührung zur selben Zeit von gerade vergangenen mit gleich folgenden Klängen.

Wir hören den Text, den wir [par cœur] singen, leicht voraus. Wir glauben ihn zu gestalten, darüber zu verfügen, ihn uns zu Eigen zu machen. Dabei hat er uns längst an der Angel. Nicht über seinen Inhalt, sondern den ihm eigenen Stil, Rhythmus, seine Farbe. Das sind die Qualitäten, die uns beim Artikulieren, Diktieren, Rezitieren und melodiösen Intonieren den Atem beschleunigen oder stocken lassen und verraten, dass im Gesagten noch anders ist als nur das Gesagte… Wir sind nicht nur die singenden Botschafter*innen der Minderen, die der Standard ins Abseits verweist, sondern zeigen uns selbst, zugewandt, ausgesetzt und exponiert.

Im Chor finden wir Verbindendes, Zuneigung wie auch Trennendes, Einspruch und Unterbrechung. Im Inneren der Gemeinschaft gibt es ein Aussen, ein Anderes. Der Chor ist niemals eine Mehrheit, sondern vielfach und vielstimmig.